Gazette März 2020 | CURAVIVA Schweiz

Unser Thema 4  |  Bildung gazette  |  März 2020 nicht nur vom Verfahren der Teilnahme spricht. Ele- mentar ist auch, worüber man spricht. Konkret: Habe ich dieselben Rechte? Und habe ich dieselben Zugän- ge zu Ressourcen oder nicht? In der Schweiz gibt es leider viele Rechtsbeschneidungen; dabei denke ich an minorisierte Personen wie beispielsweise Men- schen mit einer Behinderung, People of Color oder Transmenschen. Herr Franzini, Sie haben viel Erfahrung bezüglich Partizipation von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Wie gut gelingt sie? Urs Franzini: Fakt ist, dass 90 Prozent der Dienstleis- tungen für Menschen mit Beeinträchtigungen in Ins- titutionen erbracht werden. Fast alle Leitbilder der Institutionen beschreiben zwar den Gedanken der Autonomie. Doch der Auftrag der Reintegration wird zu wenig umgesetzt. Es besteht die Gefahr, dass Men- schen in Institutionen zum Kopfnicken erzogen wer- den. Das Gegenteil konnte ich bei einem Projekt in Oberösterreich beobachten. Dort haben Menschen mit Beeinträchtigung selber entschieden, wo sie woh- nen. Sie organisierten sich in diesem Raum und stell- ten ihr Personal ein. Das bedeutet unter anderem, dass Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen einen Tag zur Probe arbeiten und die Menschen mit Beein- trächtigung entscheiden, ob jemand ins Team passt oder nicht. Das ist ein Paradigmenwechsel. Rahel El-Maawi: Es geht immer auch um Menschen- würde. Ich darf in jenen Belangen mitreden, die mich betreffen: Familie und Wohnen, Schule, Arbeit, Nach- barschaft oder im Land, in dem ich lebe. Hannah Arendt nennt dies den Nahbereich. Können alle Menschen partizipieren? Auch wer sich nicht ausdrücken kann? Urs Franzini: Für mich ist Partizipation grenzenlos. Ich richte den Blick ohnehin lieber auf Chancen als auf Grenzen. Mir ist klar, dass einMenschmit schwersten Beeinträchtigungen nie ein selbstbestimmtes Leben führen wird, wie wir uns das vorstellen. Aber er kann sich durch basale Kommunikation in jenen Bereichen mitteilen, in denen er kompetent ist und die ihn be- treffen. Die Problematik ist die, dass wir nie ganz si- cher sind, ob wir ihn verstanden haben. Darum müs- sen wir mit Hilfe dieser Kommunikationsform immer neu suchen und entdecken. Mehr Mitsprache ist gut und recht. Aber steigen die Kosten nicht ins Unermessliche? Urs Franzini: Selbstbestimmte, partizipierende Men- schen übernehmen mehr Eigenverantwortung, was die Kosten langfristig messbar reduziert. Ich nehme nochmals Bezug auf das Projekt in Österreich. Dort war am Anfang eine Anschubfinanzierung nötig. Doch weil die Infrastruktur des Heimes wegfiel und das Projekt subjekt- und nicht objektorientiert war, entstanden keine Mehrkosten. Trotzdem: Partizipation braucht bekanntlich enorm viel Zeit. Und das kostet Geld. Rahel El-Maawi: Es stimmt, Demokratie ist teuer. Da- für tragen anschliessend viele die Entscheide mit. Die Schweiz, welche glücklicherweise von diktatorischen Umstürzen und Revolutionen verschont blieb, ist ein gutes Beispiel dafür. Auch mehr Mitbestimmung für Mitarbeitende in Firmen oder Institutionen braucht Zeit. Doch der Erfolg ist in Form einer höheren Zufrie- denheit oder weniger Personalwechsel messbar. Und schliesslich möchte ich noch ein Beispiel aus der Stadt­ entwicklung anfügen. Bezieht man die Bevölkerung über einen Mitwirkungsprozess in die Planung ein, können Einsprachen und damit Verzögerungen mini- miert werden, was Geld spart. Urs Franzini: Es ist eine Tatsache, dass wir dort, wo wir uns die Zeit nicht nehmen, viel mehr Zeit für Korrek- turen brauchen. Grundsätzlich geht es darum, dass wir die erforderliche Zeit und das Geld dafür aufbrin- gen, weil es um die Ermöglichung eines Menschen- rechtes geht. Das zeichnet eine humane Gesellschaft aus. Interview: Astrid Bossert Meier

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