Gazette Dezember 2019 | CURAVIVA Bildung
12 | Bildung gazette | Dezember 2019 Mittwochnachmittag, 13.30 Uhr, Langenthal. Im Un- tergeschoss des reformierten Kirchgemeindehauses warten vierzig Personen. Männer, Frauen, Ältere, Jün- gere, Schweizer, Ausländer. So unterschiedlich diese Menschen sind, eines ist ihnen gemeinsam: Sie müs- sen mit sehr wenig Geld über die Runden kommen. Deshalb dürfen sie hier einmal wöchentlich für einen symbolischen Franken ihreTaschenmit Lebensmitteln füllen. Wertvoll, aber unverkäuflich Die Idee des Vereins «Tischlein deck dich» ist so ein- fach wie genial: Essbare, aber unverkäufliche Lebens- mittel werden vor der Vernichtung gerettet und an armutsbetroffene Menschen abgegeben. So zum Bei- spiel Überproduktionen von Coca-Cola, Entwicklungs- produkte des Guezli-Herstellers Kambly, originell geformte Bio-Rüebli der ProduzentenorganisationTer- raviva oder Frischkäse nahe beim Ablaufdatum, wel- cher in der Coop-Filiale nicht mehr verkauft wird. Fairness ist wichtig Um halb zwei öffnet Josy Mosimann die Türe zum im- provisiertenVerkaufsladen. Sie leitet die Abgabestelle Langenthal und wird heute von sechs weiteren Frei- willigen unterstützt. Niemand drängt zum Eingang. Die Kundinnen und Kunden wissen, dass die Reihen- folge ausgelost wird. Fairness ist wichtig. «Viele Leute mussten ihr ganzes Leben lang für ihren Anteil kämp- fen. Deshalb achten wir speziell auf Gerechtigkeit», sagt Josy Mosimann. Sie bittet Tiziana Z.* aus der Wartezone zu sich. Die Mutter von drei Kindern lebt inTrennung, ist auf Jobsuche und lebt momentan von der Sozialhilfe. Ihre Sozialarbeiterin hat sie auf das Angebot von «Tischlein deck dich» hingewiesen und ihr eine Bezugskarte ausgestellt. «Meine Situation ist nicht schön. Aber ich bin dankbar, dass ich hier Lebens- mittel beziehen darf», sagt sie. Normalerweise gehe sie zuerst ins «Tischlein» und kaufe danach das Feh- lende beim Grossverteiler ein. «Wenn ich gut einteile, reicht es fast eine Woche.» Tiziana Z. steckt das obli- gatorische Einfrankenstück in die Kasse und wird dann von der Freiwilligen durch das Warenangebot geführt. Damit auch die letzte Kundin eine volle Ein- kaufstasche nach Hause tragen kann, gibt es keine Selbstbedienung, und der Bezug ist je nach Anzahl Personen im Haushalt limitiert. Warenwert bis 120 Franken Heute allerdings stapeln sich auf den u-förmig ange- ordneten Tischen Berge von Lebensmitteln, und die Freiwilligen dürfen grosszügiger verteilen als sonst. Lebensmittel verteilen statt wegwerfen 4200 Tonnen einwandfreie Lebensmittel hat «Tischlein deck dich» letztes Jahr vor dem Abfall gerettet und an Bedürftige verteilt. Das bedingt eine hochprofessionelle Logistik. Weshalb die Freiwilligen trotzdem das Herz der Organisation sind, zeigt eine Reportage aus Langenthal. «Wenn ich daran denke, dass dieses Gemüse auf dem Kompost enden würde, kommen mir fast die Tränen», sagt Franziska Bärtschi von «Tischlein deck dich». Tiziana Z. füllt ihren Einkaufstrolley und eine grosse Tasche mit Blumenkohl, Peperoni, Äpfeln, Cracker, Schokolade, Konfitüre, Orangensaft, Joghurt, Käse, Tiefkühlpizza und vielemmehr. Der durchschnittliche Warenwert beträgt 100 bis 120 Franken pro Einkauf. Alles Lebensmittel, die ansonsten im Abfalleimer ge- landet wären. «Es ist irrwitzig, wie wir mit Nahrungs- mitteln umgehen», sagt Josy Mosimann. «Auf der ei- nen Seite erhalten die Produzenten so wenig Geld, auf der anderen Seite werfen wir so viel weg.» Seitdem sie sich als Freiwillige bei «Tischlein deck dich» enga- giere, gehe sie mit FoodWaste noch bewusster um. Professionalität ist nötig Damit die FreiwilligenWoche fürWoche Lebensmittel an die armutsbetroffenen Menschen verteilen kön- nen, ist eine hochprofessionelle Logistik erforderlich. Wie diese funktioniert, weiss Franziska Bärtschi. Sie «Ohne Freiwillige könnten wir zusammenpacken.» Franziska Bärtschi, «Tischlein deck dich»
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